“Zu welcher Brutalität Putin fähig ist”: Historiker Winkler warnt (2024)

Das klingt aus heutiger Sicht fast absurd.

Dabei waren diese Bewegungen Kinder der Ostpolitik: Sie beriefen sich auf die Menschenrechtsklauseln der Helsinki-Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von 1975, die in gewisser Weise die Krönung der sozialliberalen Ostverträge bildete. Die zweite Phase der Ostpolitik stand unter der fast schon nationalistisch klingenden Devise "Im deutschen Interesse" – der sozialdemokratischen Wahlkampfparole vom März 1983. In dieser Phase sollte das gesichert und ausgebaut werden, was die Regierungen der sozialdemokratischen Kanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt an Erleichterungen für das geteilte Deutschland erreicht hatten.

Es handelte sich also mindestens um ein ausgeprägtes Maß an Egoismus.

Für die Freiheitsbestrebungen in den Diktaturen des Warschauer Pakts, des östlichen Gegenstücks zur Nato, blieb da kein Platz. Dieses weithin verdrängte Kapitel der sozialdemokratischen Parteigeschichte muss endlich aufgearbeitet werden. Aber nicht nur die SPD, auch die Unionsparteien haben allen Grund, mit ihren russlandpolitischen Irrtümern selbstkritisch ins Gericht zu gehen. Von einer solchen Bereitschaft ist bei der CDU und der CSU bislang wenig zu spüren.

Wie sollte die deutsche Russland-Politik Ihrer Meinung nach aussehen, was braucht es jetzt?

Die deutsche Politik muss der Tatsache Rechnung tragen, dass sich Putins Russland in einem wesentlichen Punkt von der Sowjetunion unter Breschnew unterscheidet: Das heutige Russland ist keine Status-quo-Macht. Es verfolgt vielmehr eine radikal revisionistische, ja imperialistische Agenda. Sie spricht der Ukraine das Daseinsrecht als selbstständige Nation ab. Die Ukraine kämpft, wenn sie ihre Unabhängigkeit verteidigt, zugleich für die gemeinsamen Werte der westlichen Demokratien. Deswegen muss die Ukraine, so gut es nur irgend geht, von Deutschland militärisch, wirtschaftlich, politisch und moralisch unterstützt werden.

Wir erinnern uns an die andauernde Debatte um die Marschflugkörper Taurus. Sollte die Ukraine auch derartige Waffen von Deutschland erhalten?

Sie bedarf der Waffensysteme, die zur Abwehr der russischen Aggression erforderlich sind. Dazu gehören nach meiner Meinung auch Marschflugkörper vom Typ Taurus. Das deutsche Entscheidungstempo hinkt, was die Waffenlieferungen betrifft, weit hinter den dringenden Bedürfnissen der Ukraine hinterher. Das muss sich ändern. Einen "Primat der Innenpolitik" kann sich Deutschland in Sachen Unterstützung der Ukraine auch im eigenen Interesse nicht leisten. Zu Verhandlungen wird Putin erst bereit sein, wenn er eingesehen hat, dass er den Krieg gegen die Ukraine nicht gewinnen kann.

Marschflugkörper Taurus: Die Ukraine muss alle Waffen erhalten, die sie zur Abwehr der russischen Invasion benötigt, sagt Heinrich August Winkler. (Quelle: Michael Bihlmayer/imago-images-bilder)

Waffenlieferungen an die Ukraine werden von rechter und linker Seite kritisiert, dort besteht die anhaltende Illusion einer möglichen Verhandlungsbereitschaft aufseiten Russlands. Was ist davon zu halten?

Die selbsternannten "Friedensfreunde" von rechts und links wollen die Realität nicht zur Kenntnis nehmen. Sie schüren verbreitete Ängste vor einem Krieg mit Russland und beuten sie aus. Die demokratischen Parteien müssen diesem Treiben offensiv entgegentreten. Auf keinen Fall dürfen sie der Versuchung nachgeben, mit Appeasem*nt-Parolen den Parteien vom rechten und linken Rand das Wasser abgraben zu wollen. Sie stärken dadurch nur die Kräfte, von denen sie sich abgrenzen wollen.

Was halten Sie von europäischen Atomwaffen?

Europäische Atomwaffen sind eine Utopie, und das schon aus finanziellen Gründen. Die nichtatomaren Mitglieder der Nato müssen ihre konventionelle Rüstung optimieren und sich mit den nuklear bewaffneten Staaten des Bündnisses so eng wie möglich abstimmen, sich vielleicht sogar an der Finanzierung ihrer Atomwaffen beteiligen. Aus guten Gründen verstärkt die Bundesregierung derzeit die rüstungspolitische Zusammenarbeit mit Frankreich und Großbritannien.

Wird die Nato Bestand haben – auch nach einer möglichen Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus?

Sollte Donald Trump die amerikanische Präsidentenwahl im November 2024 gewinnen, würde das den transatlantischen Westen in eine schwere Krise stürzen. Ich erwarte nicht, dass die USA unter Trump aus der Nato ausscheiden werden. Aber es wäre kein Verlass mehr darauf, dass sie im Ernstfall zu ihren Bündnis- und Beistandspflichten stehen. Umso wichtiger ist schon jetzt die Stärkung der politischen und militärischen Zusammenarbeit der anderen Nato-Staaten. Das gilt nicht nur für die europäischen Mitglieder des atlantischen Bündnisses, sondern auch für ihre Beziehung zu der anderen großen nordamerikanischen Demokratie, zu Kanada.

“Zu welcher Brutalität Putin fähig ist”: Historiker Winkler warnt (6)

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Die größte Bedrohung für die Nato wird in Donald Trump gesehen. Was ist aber, wenn weitere europäische Nationen künftig von Rechten und Populisten regiert werden sollten?

Gefahren für die westliche Verteidigungsallianz drohen nicht nur seitens der USA, sondern auch in Europa, das ist richtig. Sollte in Frankreich 2027 Marine Le Pen vom Rassemblement National in den Élysée-Palast einziehen, wird das Verhältnis Deutschlands zu Großbritannien bald enger sein als das zu Frankreich. Die liberalen Verfassungsstaaten des transatlantischen und des globalen Westens werden enger denn je zusammenrücken müssen, sollten die Nationalpopulisten in Washington und Paris an die Macht kommen.

Der Westen hat seine globale Vormachtstellung eingebüßt – nun kann er nur noch die von ihm geprägte liberale Weltordnung verteidigen. Wird ihm dies angesichts seines inneren und äußeren Zustands möglich sein?

Der Westen ist heute von innen mindestens ebenso bedroht wie von außen. Die freiheitliche Ordnung muss gleichzeitig gegen ihre Verächter im Inneren und die Herausforderungen durch die autoritären Mächte verteidigt werden. Die westlichen Werte, die Ideen der unveräußerlichen Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie, haben ihre weltweite Anziehungskraft nicht verloren.

Wie kann der Westen aber in Konkurrenz zu Diktaturen und Autokratien bestehen?

Glaubwürdig können westliche Demokratien nur für ihre Werte werben, wenn sie mit ihren Verstößen gegen die eigenen Werte selbstkritisch umgehen. Zu diesen Verstößen gehören Sklavenhandel und Sklaverei, Kolonialismus und Imperialismus. Ein selbstkritisches Selbstbewusstsein: Das ist das, was die liberalen Demokratien sich erarbeiten müssen. Wenn sie das schaffen, haben sie gute Aussichten, aus dem ideologischen und politischen Ringen mit den autoritären bis neo-totalitären Mächten als Sieger hervorzugehen.

    Ex-US-General Ben Hodges: "Schlimmer kann es nicht werden"Politologe Ben Ansell: "Trump würde das Baltikum nicht verteidigen"Biograf Simon Shuster: "Selenskyj plant etwas Großes"

Professor Winkler, vielen Dank für das Gespräch.

“Zu welcher Brutalität Putin fähig ist”: Historiker Winkler warnt (2024)

FAQs

What are the opinions on Putin? ›

Americans overwhelmingly rate Putin negatively: 88% say they do not have confidence in the Russian president to do the right thing regarding world affairs, with two-thirds saying they have no confidence in him at all. A similar share lacked confidence in him in 2023 (90%).

What is Putin trying to do? ›

Left unsaid is what many observers considered Putin's real goal: the overthrow of Ukrainian President Volodymyr Zelenskyy, who he smeared as neo-Nazi, and the installation of a puppet regime.

What do we know about President Putin? ›

Vladimir Putin (born October 7, 1952, Leningrad, Russia, U.S.S.R. [now St. Petersburg, Russia]) is a Russian intelligence officer and politician who has served as president (1999–2008 and 2012– ) of Russia and as the country's prime minister (1999 and 2008–12).

Who stood up to Putin? ›

Khodorkovsky was Russia's richest oligarch as well as a fierce critic of the country's president, Vladimir Putin. Despite Russia's enormous size, the country wasn't big enough for both the president and his powerful opponent.

What is the general opinion of Russia? ›

Across 24 countries surveyed, views of Russia are overwhelmingly negative, with a median of 82% saying they have an unfavorable opinion of the country, compared with 15% who say they have a favorable view. In all but five countries, majorities express an unfavorable view of Russia.

Does Mexico support Russia or the USA? ›

Mexico also condemned Russia's action at the United Nations Security Council as a non-Permanent Member. On 1 March 2022, President Andrés Manuel López Obrador announced that Mexico would not be participating in any economic sanctions against Russia and criticized the overseas censorship of Russian state media.

Does Putin want to end the war? ›

Putin is said to be “optimistic” about the war, given Russian momentum on the battlefield, and he recently appointed an economist as defense minister, suggesting, many argue, that he is prepared for a long war of attrition. Many speculate that the Kremlin wants to continue fighting until a possible Trump presidency.

Does Putin want to restore the Russian Empire? ›

Putin's words speak for themselves: What he is aiming for in Ukraine is the restoration of Russia as an imperial power. Many observers quickly picked up on one of Putin's more provocative lines, in which he compared himself to Peter the Great, Russia's modernizing tsar and the founder of St.

Why is Putin invading Ukraine? ›

Putin espoused irredentist views challenging Ukraine's right to exist, and falsely claimed that Ukraine was governed by neo-Nazis persecuting the Russian minority. He said his goal was to "demilitarise and denazify" Ukraine.

Who could replace Putin? ›

Nikolai Patrushev

Ex-MI6 chief Sir Richard Dearlove has identified Patrushev as the most likely person to replace Putin, while a Wall Street Journal investigation indicated that he was the organiser of Prigozhin's death.

What is Putin best known for? ›

Putin has held continuous positions as president or prime minister since 1999: as prime minister from 1999 to 2000 and from 2008 to 2012, and as president from 2000 to 2008 and since 2012. He is the longest-serving Russian or Soviet leader since Joseph Stalin.

How tall is Putin? ›

'Napoleon complex'

As the world struggled to understand Putin's motivations in Ukraine, some critics resorted to jibes about the Russian president's height – an estimated 5ft 7in.

Who would take over Russia if Putin was gone? ›

MIKHAIL MISHUSTIN

Russia's prime minister since 2020, Mishustin has provoked no excitement and relatively little notice, but he does have one significant potential advantage: if Putin were to die or become unable to fulfill his duties before the election, Mishustin would become acting president.

Who is responsible for the Russian Ukraine war? ›

The Russo-Ukrainian War is an ongoing war between Russia and Ukraine, which began in February 2014. Following Ukraine's Revolution of Dignity, Russia occupied and annexed Crimea from Ukraine and supported pro-Russian separatists fighting the Ukrainian military in the Donbas war.

Who ruled Russia during World War? ›

Tsar Nicholas II was the king of Russia during WWI.

What is the US view on Russia? ›

Americans continue to view Russia unfavorably

As Russia's military invasion of Ukraine enters its second year, Americans remain very negative toward Russia: 91% have an unfavorable view of the country, including 62% who say their views are very unfavorable. Just 7% in the U.S. have a favorable view of Russia.

What is the relationship between the US and Russia today? ›

Both nations have shared interests in nuclear safety and security, nonproliferation, counterterrorism, and space exploration. Due to the Russian invasion of Ukraine, relations became very tense after the United States imposed sanctions against Russia.

Why did Russia invade Ukraine? ›

Putin espoused irredentist views challenging Ukraine's right to exist, and falsely claimed that Ukraine was governed by neo-Nazis persecuting the Russian minority. He said his goal was to "demilitarise and denazify" Ukraine.

Which part of Russia is the most crowded? ›

European Russia is the most densely populated region of Russia, with a population density of 27.5 people per km2 (70 per sq mi). European Russia counts for about 15% of Europe's total population. All three federal cities of Russia lie within European Russia.

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