Das klingt aus heutiger Sicht fast absurd.
Dabei waren diese Bewegungen Kinder der Ostpolitik: Sie beriefen sich auf die Menschenrechtsklauseln der Helsinki-Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von 1975, die in gewisser Weise die Krönung der sozialliberalen Ostverträge bildete. Die zweite Phase der Ostpolitik stand unter der fast schon nationalistisch klingenden Devise "Im deutschen Interesse" – der sozialdemokratischen Wahlkampfparole vom März 1983. In dieser Phase sollte das gesichert und ausgebaut werden, was die Regierungen der sozialdemokratischen Kanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt an Erleichterungen für das geteilte Deutschland erreicht hatten.
ANZEIGE
"Die Deutschen und die Revolution: Eine Geschichte von 1848 bis 1989" von Heinrich August Winkler
Es handelte sich also mindestens um ein ausgeprägtes Maß an Egoismus.
Für die Freiheitsbestrebungen in den Diktaturen des Warschauer Pakts, des östlichen Gegenstücks zur Nato, blieb da kein Platz. Dieses weithin verdrängte Kapitel der sozialdemokratischen Parteigeschichte muss endlich aufgearbeitet werden. Aber nicht nur die SPD, auch die Unionsparteien haben allen Grund, mit ihren russlandpolitischen Irrtümern selbstkritisch ins Gericht zu gehen. Von einer solchen Bereitschaft ist bei der CDU und der CSU bislang wenig zu spüren.
Wie sollte die deutsche Russland-Politik Ihrer Meinung nach aussehen, was braucht es jetzt?
Die deutsche Politik muss der Tatsache Rechnung tragen, dass sich Putins Russland in einem wesentlichen Punkt von der Sowjetunion unter Breschnew unterscheidet: Das heutige Russland ist keine Status-quo-Macht. Es verfolgt vielmehr eine radikal revisionistische, ja imperialistische Agenda. Sie spricht der Ukraine das Daseinsrecht als selbstständige Nation ab. Die Ukraine kämpft, wenn sie ihre Unabhängigkeit verteidigt, zugleich für die gemeinsamen Werte der westlichen Demokratien. Deswegen muss die Ukraine, so gut es nur irgend geht, von Deutschland militärisch, wirtschaftlich, politisch und moralisch unterstützt werden.
Wir erinnern uns an die andauernde Debatte um die Marschflugkörper Taurus. Sollte die Ukraine auch derartige Waffen von Deutschland erhalten?
Sie bedarf der Waffensysteme, die zur Abwehr der russischen Aggression erforderlich sind. Dazu gehören nach meiner Meinung auch Marschflugkörper vom Typ Taurus. Das deutsche Entscheidungstempo hinkt, was die Waffenlieferungen betrifft, weit hinter den dringenden Bedürfnissen der Ukraine hinterher. Das muss sich ändern. Einen "Primat der Innenpolitik" kann sich Deutschland in Sachen Unterstützung der Ukraine auch im eigenen Interesse nicht leisten. Zu Verhandlungen wird Putin erst bereit sein, wenn er eingesehen hat, dass er den Krieg gegen die Ukraine nicht gewinnen kann.
Waffenlieferungen an die Ukraine werden von rechter und linker Seite kritisiert, dort besteht die anhaltende Illusion einer möglichen Verhandlungsbereitschaft aufseiten Russlands. Was ist davon zu halten?
Die selbsternannten "Friedensfreunde" von rechts und links wollen die Realität nicht zur Kenntnis nehmen. Sie schüren verbreitete Ängste vor einem Krieg mit Russland und beuten sie aus. Die demokratischen Parteien müssen diesem Treiben offensiv entgegentreten. Auf keinen Fall dürfen sie der Versuchung nachgeben, mit Appeasem*nt-Parolen den Parteien vom rechten und linken Rand das Wasser abgraben zu wollen. Sie stärken dadurch nur die Kräfte, von denen sie sich abgrenzen wollen.
Was halten Sie von europäischen Atomwaffen?
Europäische Atomwaffen sind eine Utopie, und das schon aus finanziellen Gründen. Die nichtatomaren Mitglieder der Nato müssen ihre konventionelle Rüstung optimieren und sich mit den nuklear bewaffneten Staaten des Bündnisses so eng wie möglich abstimmen, sich vielleicht sogar an der Finanzierung ihrer Atomwaffen beteiligen. Aus guten Gründen verstärkt die Bundesregierung derzeit die rüstungspolitische Zusammenarbeit mit Frankreich und Großbritannien.
Wird die Nato Bestand haben – auch nach einer möglichen Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus?
Sollte Donald Trump die amerikanische Präsidentenwahl im November 2024 gewinnen, würde das den transatlantischen Westen in eine schwere Krise stürzen. Ich erwarte nicht, dass die USA unter Trump aus der Nato ausscheiden werden. Aber es wäre kein Verlass mehr darauf, dass sie im Ernstfall zu ihren Bündnis- und Beistandspflichten stehen. Umso wichtiger ist schon jetzt die Stärkung der politischen und militärischen Zusammenarbeit der anderen Nato-Staaten. Das gilt nicht nur für die europäischen Mitglieder des atlantischen Bündnisses, sondern auch für ihre Beziehung zu der anderen großen nordamerikanischen Demokratie, zu Kanada.
Embed
Die größte Bedrohung für die Nato wird in Donald Trump gesehen. Was ist aber, wenn weitere europäische Nationen künftig von Rechten und Populisten regiert werden sollten?
Gefahren für die westliche Verteidigungsallianz drohen nicht nur seitens der USA, sondern auch in Europa, das ist richtig. Sollte in Frankreich 2027 Marine Le Pen vom Rassemblement National in den Élysée-Palast einziehen, wird das Verhältnis Deutschlands zu Großbritannien bald enger sein als das zu Frankreich. Die liberalen Verfassungsstaaten des transatlantischen und des globalen Westens werden enger denn je zusammenrücken müssen, sollten die Nationalpopulisten in Washington und Paris an die Macht kommen.
Der Westen hat seine globale Vormachtstellung eingebüßt – nun kann er nur noch die von ihm geprägte liberale Weltordnung verteidigen. Wird ihm dies angesichts seines inneren und äußeren Zustands möglich sein?
Der Westen ist heute von innen mindestens ebenso bedroht wie von außen. Die freiheitliche Ordnung muss gleichzeitig gegen ihre Verächter im Inneren und die Herausforderungen durch die autoritären Mächte verteidigt werden. Die westlichen Werte, die Ideen der unveräußerlichen Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie, haben ihre weltweite Anziehungskraft nicht verloren.
Wie kann der Westen aber in Konkurrenz zu Diktaturen und Autokratien bestehen?
Glaubwürdig können westliche Demokratien nur für ihre Werte werben, wenn sie mit ihren Verstößen gegen die eigenen Werte selbstkritisch umgehen. Zu diesen Verstößen gehören Sklavenhandel und Sklaverei, Kolonialismus und Imperialismus. Ein selbstkritisches Selbstbewusstsein: Das ist das, was die liberalen Demokratien sich erarbeiten müssen. Wenn sie das schaffen, haben sie gute Aussichten, aus dem ideologischen und politischen Ringen mit den autoritären bis neo-totalitären Mächten als Sieger hervorzugehen.
- Ex-US-General Ben Hodges: "Schlimmer kann es nicht werden"Politologe Ben Ansell: "Trump würde das Baltikum nicht verteidigen"Biograf Simon Shuster: "Selenskyj plant etwas Großes"
Professor Winkler, vielen Dank für das Gespräch.